Leon Zelman Preis 2018 für Dialog und Verständigung

Jurybegründung:

 

"Leon Zelman appellierte stets an eine verantwortungsbewusste Gesellschaft, die sich für eine Welt engagiert, in der Antisemitismus und Rassismus keinen Platz mehr haben.

 

Uli Jürgens steht als Wissenschaftsjournalistin für diese Haltung. In ihren Beiträgen und Dokumentationen auf Ö1 und ORF III beschäftigt sie sich ausführlich mit der Thematik des Erinnerns und setzt sich umfassend mit den Folgen von Flucht und Vertreibung österreichischer Jüdinnen und Juden auseinander. Sie berichtet aber auch über die mögliche Zivilcourage von Menschen während der NS-Zeit.  Gerade in Zeiten des steigenden Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit, in Zeiten in denen die Gefahr der Aushöhlung der Demokratie besteht, bedarf es JournalistInnen wie Uli Jürgens. Die Jury würdigt die Verbindung von Journalismus mit gesellschaftspolitischem Engagement und betont damit auch die Wichtigkeit des bildungspolitischen Auftrags eines starken öffentlichen und unabhängigen Österreichischen Rundfunks."

Mein wunderbarer Laudator Michael Baiculescu vom Mandelbaum Verlag. (Copyright: Walter Schaub-Walzer)

 

Hier die Laudatio in voller Länge:

 

"Uli Jürgens ist und versteht sich als Wissenschaftsjournalistin und ist doch eine Geschichtenerzählerin. "Ich krame gerne in fremden Familiengeschichten herum", sagt sie von sich. Sie interessiert sich für die teils schmerzhaften, teils aber auch sehr komischen, eben menschlichen Einzelgeschichten, für Schicksale, ganz private Leiden und Erfolge, erzählt liebevoll Details. Und obwohl oder gerade weil ihr Interesse diesen vielen einzelnen Geschichten gilt, entstehen Zusammenhänge, erhebt sich die Information vom Einzelschicksal zu einem Geschichts-Bild. Und am Ende entsteht, ob von der Autorin beabsichtigt oder unter der Hand, ein Muster, eine Form, ein Kontext, der aus den einzelnen Geschichten ein Bild gesellschaftlicher Verhältnisse formt. 

Begonnen hat diese Art der Arbeit für Uli Jürgens mit dem Buchprojekt über die Fluchtroute nach Portugal 1939/40 und den portugiesischen Honorarkonsul in Bordeaux, der viele tausend Menschen mit Visa versorgt und damit gerettet hat. Der in Österreich seltene kosmopolitische Blick auf den portugiesischen Sprachraum entstammt ursprünglich der Kindheit von Uli Jürgens. Drei Jahre lang ist sie in Brasilien aufgewachsen und bis heute sagt sie von sich: "Mein halbes Herz schlägt brasilianisch". 

In ihren Arbeiten steckt ganz unaufgeregt immer ein Gegenwartsbezug. Zum einen macht Uli Jürgens in ihrer Formensprache deutlich sichtbar, dass sie die Texte und Filme heute und aus heutiger Sicht erstellt. Und zweitens: Bei ihr evoziert eine Erinnerung eine Haltung, eine. Es geht ihr darum, die vergangene Geschichte für die Gegenwart erfahrbar, verständlich und damit nutzbar, fruchtbar zu machen. Sie meint, jede Exil- und jede Fluchtgeschichte ist in dieser Welt immer aktuell.

Ihre Arbeiten sind nicht plakativ, sind nicht laut. Gegen den in den Medien vorherrschenden Lärm kommen ihre Dokumentationen leise daher, nehmen sich Zeit, eine Einstellung, ein Bild, einen Zusammenhang nüchtern, unpathetisch aber eindrücklich beim Betrachter, bei der Leserin, wirken zu lassen.

 

Das bedeutet aber auch, dass Uli Jürgens besondere Rezipienten braucht, die ihre Geschichten aufnehmen und bereit sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre Arbeiten sind also nicht nur ein Beitrag, die Gesellschaft wacher, aufmerksamer zu machen, sie benötigen auch eine Gesellschaft, die sich erinnern will, die es auch aushält, an ihre Verantwortung erinnert zu werden. Und in diesem Punkt war die österreichische Nachkriegs-Gesellschaft bekanntlich sehr schwach. Und heute stellt sich ein neues Problem:

Damit eine verantwortungsbewusste Gesellschaft, wie sie Leon Zelman forderte, die sich für eine Welt engagiert, in der Antisemitismus und Rassismus keinen Platz mehr haben, agieren kann, muss sie sich selber überhaupt als Gesellschaft verstehen. Und wir leben in einer neoliberal geprägten Zeit, in der Gesellschaft in viele kleine und immer abgeschlossenere Parallelgesellschaften zerfällt, einer Zeit, in der Individuen statt Kollektiven zunehmend die Übernahme von Verantwortung zugesprochen wird.

Bereits in den achtziger Jahren erklärte Margaret Thatcher unmissverständlich und auf bestimmte Art prophetisch: "There is no such thing as society!" Kaum hatten Ideen vom Ende der Geschichte nach 1989 Platz gegriffen, begann auch - ganz ohne Lenkung, quasi naturhaft - die Umwertung fast aller Begriffe. 

Anfang der neunziger Jahre zum Beispiel machte eine Automobilfirma Werbung mit dem Spruch:  "Die Revolution findet auf der Straße statt". Damals war ich über die Chuzpe der Firma noch amüsiert. Heute gibt es kaum noch Begriffe, die nicht vielfachen Umdeutungen und schließlich der Beliebigkeit zum Opfer gefallen sind. Wenn Sie zum Beispiel nach der Muse des Heldenepos und der Geschichtsschreibung in der griechischen Mythologie, der Clio, auf google suchen, finden Sie zuallererst und vor allem Einträge zu einem Modell der bereits genannten Automobilfirma. 

 

Es ist alles wurscht und diese Wurschtigkeit hat System: in dieser Beliebigkeit kann sich Gesellschaft nicht herstellen und natürlich schon gar nicht erinnern.

Diese genau genommen gesellschaftliche Missachtung der Geschichtsschreibung steht, so wie die Flut von Reizworten und Bildern, im Zentrum der Frage, wie erzählte Geschichte heute funktionieren kann. Das betrifft sowohl die Formen der Erzählung als auch die Produktionsbedingungen, unter denen heute Geschichtsschreibung und Geisteswissenschaft  entsteht. 

 

Zur Sprache und zu den Bildern von Uli Jürgens: Es gibt eine lange Tradition des Geschichtenerzählens und eine genau so lange Tradition, die Erzählkunst zu instrumentalisieren, ihr einen Zweck unterzuschieben. Uli Jürgens hat einen anderen Zugang, eine andere Vorgangsweise. Sie lässt zu, dass sich Geschichten quasi selber erzählen. Sie weiß am Anfang einer Arbeit noch nicht, was am Ende dastehen soll, wie das Bild ausschauen soll. Sie hat kein fixes Programm. Sie studiert, was sie wahrnimmt, sie lässt es auf sich wirken; die Eigendynamiken des Schreibens und Filmens lässt sie zu und sie sind in ihren Arbeiten spürbar. Und sie wendet einen Satz in ihrer Arbeit an, den sie von Friedemann Derschmidt übernommen hat: Man muss sich komplett neu erfinden, die Erinnerungsarbeit ist auch für die Autorin eine schmerzhafte. Und so entsteht bei ihr Stück für Stück ein Geflecht an Informationen, die sich aufeinander beziehen. Sie weiß nicht mehr, sie ist nicht klüger als der Text oder das Bild und man spürt ihre Neugier und Freude, aus den Bildern selber mehr zu erfahren. 

Die Geschichte, die sie (auch sich) erzählt, wirkt auf sie selber weiter und so entsteht erst die Botschaft, die nicht vorher schon feststeht. Und das macht auch die Texte und Bilder und Tondokumente so eindrücklich: da gibt uns jemand die Möglichkeit durch ihre Augen und Ohren etwas zu entdecken, was sie selber gerade entdeckt. Und doch versteht sich Uli Jürgens als Wissenschaftsjournalistin. Der subjektive Blick der Reporterin wird immer durch ein intensives Studium der Fakten und Zusammenhänge ergänzt.

 

Zu den Produktionsbedingungen für eine Journalistin, die, wie die Jury feststellte, den Journalismus mit gesellschaftspolitischem Engagement verbindet: Uli Jürgens war 13 Jahre im ORF fix angestellt und hat den ORF verlassen, um die Projekte durchführen zu können, für die sie heute zu Recht geehrt wird. Im Rahmen einer ordentlichen Anstellung war dies nicht möglich. Uli hat mir gesagt, dass sie den Schritt in die ökonomisch unberechenbare Selbständigkeit keineswegs bereut und ihr die freudvolle Arbeit und die entstandenen Projekte und Möglichkeiten die finanzielle Unsicherheit bei weitem aufwiegen. 

Aber bedeutet das nicht eine gesellschaftliche Geringschätzung, wenn eine Journalistin auf zwei Drittel ihres Einkommens und Absicherungen verzichten muss, um solch großartige Arbeiten machen zu können. Was sagt uns das beispielsweise über den Zustand der hiesigen Medien – seien sie öffentlich-rechtlich, seien sie privat –, dass die von allen so wichtig erachtete Erinnerungsarbeit und -kultur ebenso wie zeitgeschichtliche Forschung  fast nur noch auf Projektbasis unter prekären Verhältnissen entsteht. Das ist jetzt keine ORF-Schelte, vielmehr eine Aufforderung auch an den ORF,  seiner gesellschaftlichen Aufgabe gerade heute nachzukommen und nicht in politischer Lähmung bzw. im Beklagen fehlender Mittel zu verharren. Es ist immer auch eine Frage der Prioritäten. 

Der Zustand gehört jedenfalls dringend geändert, es müssen viel mehr finanzielle Mittel für geisteswissenschaftliche Forschung und Berichterstattung aufgebracht werden, ebenso wie strukturelle Absicherungen geschaffen werden müssen. Und das natürlich nicht nur im ORF.

An dieser Stelle sei den Organisatorinnen und der Jury des Leon-Zelman-Preises gedankt, dass sie auch immer wieder auf diese unbefriedigende Situation hinweisen.

 

Aus Geschichtsschreibung  kann ein Erinnern resultieren. Doch es bedarf der Menschen, die sich erinnern wollen, ein kollektiver Prozess. Erst durch Auseinandersetzung, erst durch die beständige Konstruktion und Kommunikation kann so ein Prozess entstehen. Das Erinnern wäre ein wesentlicher konstitutiver Bestandteil der Selbstermächtigung einer Gesellschaft ihre Zukunft zu gestalten."

Wenn in einem Land dermaßen häufig die Fragen nach Identität und Heimat und Wurzeln etc. gestellt und immer irgendwelche Werte propagiert werden, ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass Margaret Thatcher auf bestimmte Art Recht behalten hat: Today there is no such thing as society.

In letzter Zeit gab es viele wichtige Diskussionen über die Frage, wie Erinnerungskultur, also die Ausgestaltung, die Ausformung von Erinnerung in Zukunft auch ohne ZeitzeugInnen ausschauen kann und wird. Ohne auf diese Diskussion hier einzugehen, denke ich, dass uns mit AutorInnen, JournalistInnen, FilmemacherInnen wie Uli Jürgens um die Zukunft des Erinnerns nicht bange werden muss."